Dienstag, 29. September 2015

Weißseespitze Nordwand Solobegehung

Ende September. Das Wetter in den Alpen ist gut, ein Hochdruckgebiet hat sich festgesetzt und beschert jeden Tag blauen Himmel und Windstille. Klar, da muss ich eine Tour machen! So kurzentschlossen hat wieder mal keiner meiner Tourenpartner Zeit, also packe ich Eisgeräte und Zustiegsski ein und fahre allein ins Kaunertal. Nachdem ich die unzähligen Kehren der Kaunertaler Gletscherstraße hinter mich gebracht habe stehe ich auf 2700 Meter Höhe auf dem großen Parkplatz des Gletscherskigebiets.


Ich steige noch kurz auf einen kleinen Felsgipfel hinter dem Parkplatz, von dem aus ich einen hervorragenden Blick über das Tal habe. Und natürlich kann ich von hier aus auch mein Objekt der Begierde, die Nordwand der Weißseespitze, ausführlich studieren. Mit 3518 Metern ist sie der höchste Gipfel in der näheren Umgebung, wie eine eisige Trutzburg steht sie hoch über dem Parkplatz und den Liften.
Leider hat ihre Nordwand durch den Klimawandel so einiges an Substanz verloren. Vor wenigen Jahren noch galt das Eisschild als ideale Tour für Einsteiger, umso erschrockener bin ich jetzt beim Anblick des steilen, felsdurchsetzten Schutthaufens. Ohne erheblichen Felskontakt wird hier kein Durchkommen sein, auch braucht man eine ausgeklügelte Routenführung und entsprechendes Orientierungsvermögen beim Klettern. Na gut, ich hab ja nie gesagt dass ich es leicht haben möchte.
Nachdem ich zum Auto abgestiegen bin und mir noch Nudeln gekocht habe mache ich es mir auf dem Beifahrersitz bequem und schlafe auch bald zum Surren der Schneekanonen ein...


 Am Vorabend studiere ich gemütlich von einem Felskopf aus das morgige Tourenziel

 Detailfoto der Nordwand. In Schleifen steige ich über Bänder und Felsstufen durch die Wand

Am nächsten Morgen reißt mich der Wecker lange vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf. Am Horizont zeigt sich ein zarter schmaler Streifen Farbe, doch die Weißseespitze steht noch als schwarzer düsterer Klotz hoch über mir. Das schwierigste am Solobergsteigen ist das Aufbrechen. Mühsam quäle ich mich aus der Geborgenheit des Schlafsacks und steige in die kalten Bergschuhe. Kurz darauf laufe ich schon mit noch steifen Schritten über die Skipiste Richtung Wandfuß.
Mithilfe der Zustiegsski komme ich schnell voran, und schon nach einer halben Stunde überquere ich den ersten Bergschrund der Wand. Hier ist das Gelände noch nicht wirklich steil, und so zirkele ich in Spitzkehren über das untere Eisfeld. Beim zweiten Bergschrund am Übergang zum zweiten Eisfeld wird es zu steil, ich schnalle die kleinen Ski an den Rucksack und die Steigeisen an die Schuhe. Das zweite Eisfeld steilt von 45° am Anfang bis 50° am Ende auf, eigentlich nicht schwierig, doch unter einer dünnen Neuschneeschicht liegt hartes Gletschereis. Nach kurzer Zeit schon brennen mir die Waden, ich muss regelmäßig auf den Seitenzacken stehend Pause machen.
Doch auch das qualvolle zweite Eisfeld liegt irgendwann hinter mir und ich stehe am dritten und obersten Bergschrund. Hier beginnt das felsdurchsetzte schwierige Gelände. Zweifel plagen mich. Wie wird der Schnee sein? Wie fest ist der Fels? Kann ich eine Route durch das steile Labyrinth finden? Noch kann ich, wenn auch umständlich, umdrehen und absteigen. Bin ich erstmal im Felssteil, wird das schwierig.
Irgendwann gebe ich mir einen Ruck und klettere energisch über den Bergschrund. Ich muss hier einige Meter 70° steiles Eis überwinden, dann stehe ich entspannt am Fuß einer Schneerampe, die mich nach oben führt. Die ganze Wand ist tief mit Pulverschneeüberzogen, der das Vorankommen mühsam macht. Guter Trittfirn? Fehlanzeige. Dafür kann man sich im Pulverschnee wenigstens jederzeit problemlos ausruhen. Ich folge der Rampe so lange wie möglich, dann muss ich einige Steilstufen über brüchigen verschneiten Fels klettern. Vorsichtig die Spitzen der Eisgeräte in den stabilsten Rissen verklemmen, Steigeisen auf festgefrorene Kieselsteine stellen und Hochsteigen. So mogel ich mich Schritt für Schritt durch das heikle M3-Gelände. Nach zwei kurzen Schneebändern und weiteren Felsstufen stehe ich auf einem großen Band, auf dem ich die gesamte Wand queren muss. Der Schnee liegt hüfttief, doch ich komme gut voran. Jedes Zeitgefühl ist vergessen, ich werde eins mit der Bewegung. Irgendwann liegen auch die letzten Felsen hinter mir und ich muss nur noch auf dem Gipfeleisfeld über ein paar wadensprengende Blankeisstellen hechten, dann sehe ich die Sonne. Was für eine Wohltat! Die Wand legt sich zum weitläufigen Gipfelplateau zurück, dahinter tauchen Bernina, Ortler, Weißkugel und Dolomiten auf. Ich gehe noch zum Gipfelkreuz hinüber und gönne mir bei herrlichen Kaiserwetter eine ausgedehnte Gipfelrast.
Irgendwann mache ich mich an den Abstieg, der über den langen Westgrat führt und nochmals einige Kletterstellen sowie Gegenanstiege bereithält. Der Grat endet an der Bergstation der Skilifte. Hier nehme ich die Zustiegsski vom Rucksack, gespannt, wie die Abfahrt auf 135cm langen Kinderski und in Bergschuhen wird. Es ist mein erster Versuch mit diesem Setup, und so sehr ich beim Aufstieg begeistert war, so stark zweifel ich jetzt über die Abfahrtsperformance. Zurecht, nach einem Meter liege ich auf der Nase. In Bergschuhen kann man keinen Druck aufs Schienbein bringen, man kann den Ski lediglich über den Fußballen und vorsichtige Belastungsänderungen steuern. Ich falle noch ein paar mal hin, doch dann habe ich den Bogen raus: In schönen Kurzschwüngen wedele ich die noch geschlossene Skipiste hinunter, einen Jauchzer nach dem anderen ausstoßend. 

Gipfelaussicht zur Weißkugel hinüber. Auf diesem Gipfel stand ich ein halbes Jahr vorher mit Tourenski

Am nächsten Tag trage und schiebe ich noch mein Mountainbike tausend Höhenmeter in die hochalpine Riffelscharte hinauf. Auf dieser Tour erlebe ich nochmal einen schönen Sonnenaufgang über dem Kaunertal. Die Abfahrt dagegen ist weniger der Bringer. Die Leitfrage beim Bikebergsteigen "Alles fast fahrbar oder fast alles fahrbar" fällt hier leider stark Richtung "Alles fast fahrbar" aus...



Sonnenaufgang über dem Eispalast der Weißseespitze

Panorama von der Riffelscharte. Rechts im Bild sind Weißseespitze und Weißkugel zu sehen

"Fast alles fahrbar oder alles fast fahrbar?"


Anmerkung: Die Nordwand der Weißseespitze ist keine Anfängertour mehr! Wer hier einsteigt sollte eine gute Portion alpine Erfahrung mitbringen und sich im brüchigen Fels wohlfühlen. Auch reichen die Schwierigkeiten durch das Abschmelzen der unteren Gletscherstufe mittlerweile über eine Höhendifferenz von fast 500 Höhenmetern, sodass zusätzlich auch mehr Kondition gefragt ist als früher. Werden Schwierigkeiten gewachsen ist sollte die Wand baldmöglichst machen. Die Verhältnisse werden so schnell nicht besser, im Gegenteil, der Klimawandel wird uns nur noch mehr schöne Nordwände nehmen...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen